2020
Friday
July
31

Interview with Manfred Dorr coordinator of the German Cittaslow network

Interview by Judith Lembke

Die Bewegung Cittaslow setzt auf entschleunigte Stadtentwicklung. Ein Gespräch mit dem Präsidenten Manfred Dörr über Heimatstolz, die Gefahren von schnellem Wachstum – und warum es sich in Kleinstädten vielleicht besser lebt als in Berlin oder München.

Als positiven Aspekt der Corona-Krise haben viele Menschen die Entschleunigung genannt. Fühlen Sie sich bestätigt? Schließlich haben sich in der Cittaslow-Bewegung Städte zusammengeschlossen, die sich genau das auf ihre Fahne geschrieben haben.

Entschleunigung ist natürlich ein großes Thema bei uns, obwohl das nicht bedeutet, dass wir langsamer arbeiten. Wir wollen aber bewusstere Entscheidungen treffen und alles etwas gründlicher bedenken. Wir gehen Dinge gemächlicher an, denn die andauernde Hetze führt in der Kommunalpolitik auch häufig zu Fehlern. Und das kann ja nicht Sinn einer Gemeinschaft sein.

Das Leitbild Ihrer Bewegung ist eine Schnecke. Das wirkt fast trotzig in einer Zeit, in der sich viele Städte für ihre Dynamik und schnelles Wachstum rühmen. Was wollen Sie anders machen?

Wir wollen gerade nicht, dass sich die Städte rasend schnell entwickeln. Wir glauben zum Beispiel nicht, dass es der richtige Weg ist, an den Rändern immer mehr Neubaugebiete auszuweisen und dabei die Stadtkerne zu vernachlässigen. Jede Stadt muss ihre eigenen Stärken identifizieren und dann aus den gewachsenen Strukturen die Potentiale für die Zukunft schöpfen. So erhält man Städte, in denen die Menschen gern leben. Ein langsames Wachstum einer Stadt ist immer besser als ein schnelles. Wer schnell gewachsen ist, ist deutlich anfälliger für Krisen. Wir setzen auf eine nachhaltige Entwicklung von lebenswerten kleinen Städten.

Welche Ziele verfolgen Sie für Deidesheim?

Wir sind eine Weinbauregion, für uns spielen Tourismus und Weinkultur eine große Rolle. Wir pflegen unsere Weinkulturlandschaft und arbeiten mit den Winzern eng zusammen. Zudem haben wir das Stadtzentrum mit Gebäuden aus dem 15. und 16. Jahrhundert neu gestaltet – nicht nur, weil das Touristen anzieht, sondern auch, um die Identifikation der Bewohner mit der Stadt zu stärken. Früher war der zentrale Platz eine reine Gastronomiefläche, heute ist es wieder das Herz von Deidesheim. Jede Stadt muss ihr eigenes, unverwechselbares Gesicht finden!

Cittaslow ist als Gegenbewegung gegründet worden, dass sich in allen kleinen Städten dieselben Ketten ansiedeln. Gerade in einer globalisierten Welt muss man die regionalen Besonderheiten stärken und sichtbarer machen.

Sie wollen also kein McDonald’s und H&M in Ihrer Stadt?

Wir wollen Geschäfte und Gastronomie, die die regionalen Produkte vermarkten und verfeinern. Wir wollen Individual- und keinen Massentourismus, der die Qualität unserer Produkte schätzt und auch bereit ist, dafür mehr auszugeben. Jeder Ort muss seine Identität entwickeln, dann passt er ins Leitbild von Cittaslow.

Ist es schwierig, als Ort die Balance zu halten, dass man einerseits Traditionen und alte Bausubstanz bewahrt und trotzdem nicht zum Freilichtmuseum wird?

Eine Puppenstube ist nicht lebensfähig, die Leute müssen auch ihr Geld verdienen können. Man muss alle Generationen gleichermaßen bedienen und Plätze schaffen, wo sie sich treffen können. Auch die traditionellen Bräuche wie bei uns das alte Weinfest oder die 600 Jahre alte Geißbock-Versteigerung müssen wir immer wieder neu ausrichten, damit sie zukunftsfähig sind.

Was kann eine Kleinstadt wie Deidesheim denn als Wohnort Großstädten wie Berlin oder München im Wettbewerb um Talente entgegensetzen?

Wir wollen mit den großen Städten gar nicht konkurrieren, sondern uns bewusst von ihnen abheben. Viele, die in Deidesheim wohnen, arbeiten tagsüber in Großstädten wie Mannheim oder Ludwigshafen. Aber wenn sie nach der Arbeit nach Hause kommen, wissen sie die hohe Lebensqualität bei uns zu schätzen, die Ruhe, gute Luft und die Nähe zur Natur. Wir wollen die Leute für die Besonderheiten unserer Region begeistern. Damit fangen wir schon im Kindergarten an.

Und wie machen Sie das konkret?

Wir haben ein Kinderbuch entwickelt, das den Kindern die Geschichte und Traditionen der Stadt nahebringt. Unsere Sterne-Köche haben mit Kindergarten- und Schulkindern mit einheimischen Produkten gekocht, damit sie den Geschmack von Pfälzer Himbeeren und regionalem Gemüse schätzen lernen. Dadurch bekommen die Kinder einen Bezug zu ihrem Heimatort und sind stolz auf ihn.

Wie viele Städte gehören zu Cittaslow, und wie viele sind es in Deutschland?

Insgesamt gehören 240 Städte in dreißig Ländern dazu, in Deutschland sind es 21.

Was sind die Kriterien, um aufgenommen zu werden?

Die Städte müssen unter anderem eine nachhaltige Energie- und Umweltpolitik betreiben, ihre urbane Qualität und regionales Handwerk stärken. Man muss sich als Gemeinde aber vor allem ganz grundsätzlich überlegen, wo man steht und wo man in Zukunft hinwill.

Und was sind die Vorteile für die Gemeinden, wenn sie Mitglied bei Cittaslow sind?

Die Stadt ist dann Teil eines internationalen Netzwerks und kann auf zahlreiche Erfahrungen von Mitgliedern zurückgreifen, die vielleicht schon einmal vor ganz ähnlichen Herausforderungen standen wie man selbst. Davon kann man lernen und profitieren.

Was können deutsche Kleinstädte denn von ausländischen lernen?

In Fragen der Mobilität sind die Holländer zum Beispiel schon viel weiter als wir. Sie sind Vorreiter bei autofreien Innenstädten und setzen viel stärker auf Fahrradverkehr.

Kann auch eine Stadt ohne hübschen Stadtkern mitmachen?

Wir wollen kein elitärer Club sein. Natürlich bewerben sich viele schöne Orte, aber auch immer wieder welche, die einen Neuanfang in ihrer Entwicklung planen. Zum Beispiel Städte, die an der deutsch-deutschen Grenze lagen und wo in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel passiert ist. Wenn die sich nun aufraffen und sich neue Ziele setzen, dann unterstützen wir das gern. Eine hohe Lebensqualität gibt es nicht nur in touristischen Orten. Auch anderswo kann es entschleunigt zugehen.

Gibt es eine Herausforderung, vor der alle Cittaslow-Städte stehen, von Deutschland über die Türkei bis nach Südkorea?

Alle politischen Entscheidungen werden zugunsten der Großstädte gefällt, in Asien ist das noch viel stärker der Fall als bei uns. Die kleinen Städte werden vergessen. Die Menschen merken aber, dass die Lebensqualität in den Megacitys nicht besonders hoch ist. Sie versuchen gegenzusteuern und nehmen Cittaslow als Vorbild. Menschen brauchen Orte, an denen sie sich auszubalancieren, wieder Kraft schöpfen können – gerade in einer digitalisierten Welt, die immer schneller wird.

Gesichtslose Schlafstädte, aus denen die Menschen zur Arbeit ins Zentrum pendeln, sind also bald Geschichte?

Zumindest werden die Menschen dort auf die Dauer krank. Das hat man auch in Asien erkannt und strebt einen Wandel an. Wir haben immer wieder Besuch von Südkoreanern und Chinesen aus dem Netzwerk, die sich anschauen, wie wir es in Europa machen.

Was finden die in deutschen Kleinstädten besonders interessant?

Sie sind vor allem davon fasziniert, dass sich die Vergangenheit im Stadtbild noch nachvollziehen lässt. Dass die Städte sich zwar weiterentwickelt haben, der ursprüngliche Geist der Stadt aber trotzdem noch lebendig ist.

Bekommen Ihre asiatischen Gäste auch Saumagen? Schließlich ist Deidesheim doch berühmt dafür, dass Helmut Kohl seinen Staatsgästen dort immer wieder die Pfälzer Spezialität serviert hat.

Ja, sie haben auch Saumagen bekommen. Aber man darf sich darauf nicht ausruhen und glauben, dass man immer noch die Saumagen-Mentalität verbreiten müsste und dann würden die Leute schon kommen. Es gibt hin und wieder Leute, die noch danach fragen, aber wenn ein Ort sich nicht weiterentwickelt und auf dem alten Image ausruht, dann hat er verloren.

Source: www.faz.net